Adolf Zeising

(Nachruf von Nikolaus Wecklein)

 

Durch den am 27.April erfolgten Tod von Adolf Zeising hat unsere Akademie ein angesehenes Mitglied, die Wissenschaft einen ihrer Treuesten Jünger verloren. Zeising’s Name verdankt seine allgemeine Bekanntschaft vorzugsweise der Entdeckung von dem Proportional-gesetz des goldenen Schnitts, welches in erster Linie für die Theorie des Schönen epochemachend wurde und der Aesthetik exacte Forschung zuführte, aber auch für die Physiologie, Botanik, Mathematik und andere Wissenschaften Bedeutung gewann. Seit dem Erscheinen der “Neuen Lehre von den Proportionen” (1854) hat sich auf den verschiedenen Gebieten des Wissens eine umfassende Literatur mit der Ausführung und Entwicklung der fruchtbaren Idee beschäftigt, und der Entdecker selbst, gehoben durch die immer klarer vor Augen tretende Geltung und Wichtigkeit der gefundenen Wahrheit, ist nicht müde geworden, seinen Gedanken nach allen Seiten zu verfolgen und zu bearbeiten. Auch diejenigen Künstler, welche sich zuerst ablehnend verhielten und meinten, dass das Gesetz dem freien Schaffen des Genius Fesseln anlegen wolle, mussten sich bald durch den Hinweis auf Meister Raphael und die grossen Baumeister des Altertums wie des Mittelalters eines Besseren belehren lassen und erkennen, dass nicht bloss das Kunsthandwerk, welches sich alsbald der Entdeckung freudig bemächtigte, sondern auch die Kunst von der Erkenntnis des Gesetzes lernen könne.

Adolf Zeising (oben links) aus: “Ein Festabend der Münchner Dichter”, Originalzeichnung von Theodor Pixis

Text Box: Adolf Zeising (oben links) aus: “Ein Festabend der Münchner Dichter”, Originalzeichnung von Theodor PixisWie Zeising seine Lehre von den Proportionen in heterogene Gebiete verfolgt hat, so besass er überhaupt eine Vielseitigkeit des Denkens, Wissens, geistiger Anlagen und Interessen, wie man sie selten beisammen findet. Exacte Forschung und philosophische Spekulation, künstlerisches Schaffen und streng methodisches Denken, Umfang und Tiefe waren in ihm wunderbar vereinigt, und auf alle Erschei-nungen und Fortschritte der Kunst und der Wissenschaft war sein Interesse in gleicher Weise gerichtet. Dabei nahm er mit ganzer Seele, bald mit blutendem Herzen, bald mit feuriger Begeisterung, Theil an den politischen Ereignissen; für kurze Zeit einmal selbst mitten in die wilden Wogen des Partei-kampfes gestellt, kannte er das Leben nicht blos von der Studirstube aus. Mit vielen edlen Männern des Jahres 1848 erlebte er als das Froheste und Schönste die Erfüllung dessen, für das er gestritten und gedulded hatte. Auf seinem dreijäh-rigen Schmerzenslager fühlte und äusserte er immer als höch-sten Trost, dass ihm noch vergönnt gewesen sei, die Einigung und freiheitliche Gestaltung des Vaterlandes mit anzusehen. Mit religiösen Kämpfen hatte er sich schon früher in seiner Abhandlung: “Die pantheistische Tendenz des Christentums” (1846), und in Gedichten wie im Verkehr mit den Führern der freireligiösen Gemeinden lebhaft beschäftigt, und so nahm er an den religiösen Kämpfen der neuesten Zeit den herzlichsten Anteil, da er der freie Denker und Feind jeglicher Unter-drückung, den Kampf gegen geistige Knechtschaft freudig begrüsste und mitzukämpfen sich sehnte. Deshalb konnte er nicht umhin, in seinem letzten grossen Werke: “Religion und Wissenschaft, Staat und Kirche” (1873), das darin entwickelte philosophische System, die Arbeit vieler Jahre, und das Denken eines ganzen Lebens, mit Beziehungen und Anwendungen auf die religiösen Zeitfragen zu umkleiden, die leicht das Werk in Gefahr bringen können, unter die ephemeren Erscheinungen gerechnet zu werden.

Wie dieses reiche und fruchtbare Leben seine Ziele und Richtungen erhalten hat, wollen wir hier nur kurz anzudeuten suchen. Zeising war geboren zu Ballenstedt am 24. Sept. 1810. Sein Vater hatte als Violinvirtuose grosse Kunstreisen, selbst in fremde Weltteile gemacht und sich zuletzt als Kammermusikus in Ballenstedt niedergelassen. Die Quartette im Hause des Vaters erweckten in dem Knaben den feinen musikalischen Sinn und die besondere Vorliebe für Quartettmusik. Schon in seinem 7. Jahre verlor er seinen Vater. Seine Mutter siedelte nach Bernburg über und brachte den Knaben in das dortige Gymnasium. Nur für kurze Zeit wurde er den Gymnasialstudien entzogen und in eine Apotheke in die Lehre gegeben; bald durfte er seiner Neigung entsprechend in das Gymnasium zurückkehren. Der Treffliche Mathematiklehrer des Gymnasiums regte in dem Schüler das lebhafte Interesse für Mathematik an, welches für seine späteren Studien so bedeutungsvoll werden sollte. In Secunda lenkte er die Aufmerksamkeit des liebenswürdigen Herzogs Alexis Friedrich Christian mit einem Gedicht über den Ballenstedter Schlossgarten auf sich und ward durch ein grosses Amtsschreiben überrascht, welches ihm den Dank des Herzogs ausdrückte und ein Stipendium für die Vollendung seiner Studien aussetzte. Ostern 1831 ging er vom Gymnasium ab. Obwohl er sich die grösste Anerkennung seiner Lehrer und den ersten Preis erworben hatte, drückte sich sein Zeugnis doch etwas flau und zurückhaltend aus. Da der Jüngling deshalb mit Rücksicht auf das herzogliche Stipendium dem Direktor seine Bedenken äusserte, tröstete ihn dieser und verriet ihm, dass das Zeugnis, welches der Herzog erhalten, ganz anders laute, und dass man ihm die wahren Noten deshalb nicht in die Hand gegeben habe, um ihm nicht hochmütig zu machen. Das erste Semester brachte er in Berlin zu, wo er die Vorlesungen von Böckh, Bachmann u.a. besuchte; dann ging er nach Halle und hörte Philosophie bei Rosenkrantz, Philologie bei Bernhardy und Ritschl. Damals verfasste er ausser Xenien das Gedicht: “An die Wolken”, welches ihn bereits öffentlich bekannt machte. Zuletzt kehrte er nach Berlin zurück und schrieb dort “Briefe eines angehenden Philosophen”. Grosse Freude machte ihm damals der Verkehr mit Chamisso. Im Jahre 1833 ging er von der Universität ab und bereitete sich für das Examen zum Lehramt vor. Als er dasselbe bestanden, gab er eine Zeit lang unentgeltlich Unterricht am Gymnasium in Bernburg. Privatunterricht musste nebenbei die nöthigen Existenzmittel verschaffen. Ja, er sah sich gezwungen, eine Stelle an einer höheren Töchterschule anzunehmen, bis man erkannte, dass man eine solche Kraft besser verwenden könne. Bis dahin hatten Intriguen eines einflussreichen Verwandten seine Anstellung am Gymna-sium hintertrieben. Im Jahre 1840 promovierte er: die Knappheit der Verhältnisse hinderte ihn, sich an einer Hochschule zu habilitieren und dort einen entsprechenden Beruf zu finden. Im Jahre 1841 zum provisorischen Subconrector ernannt, erhielt er 1848 den Titel Professor. Neben der Thätigkeit für die Schule ging eine angestrengte wissenschaftliche und poetische Thätigkeit einher. Unter dem Namen Richard Morning lieferte er reiche Beiträge für die “Jahreszeiten” von Marbach, unter Anderem eine Paralelle zwischen Goethe und Tieck. Zu seiner grossen Ueber-raschung wurde er, als er bald darauf Tieck in Dresden besuchte, von ihm als der Verfasser jenes Aufsatzes freundlichst begrüsst. Im Jahre 1843 heiratete er die Tochter des Geheimrats Petri, die er bereits an der Töchterschule kennen und verehren gelernt hatte und die ihm die treueste Lebensgefährtin wurde. In den Bewegungen des Jahres 1848 begründete und redigierte er das Oppositionsblatt “Sprechsaal” in welchem die Missbräuche der Verwaltung aufgedeckt wurden und die damalige Regierung von drei Conferenzräthen einer unnachsichtigen, aber gerechten Kritik unterlag. Bald wurde er in Bernburg zum Volksvertreter ernannt und hatte als Führer der liberalen Partei und als unantastbarer, entschiedener Charakter die heftigsten Anfeindungen und aufregendsten Szenen, Lebensgefahr für sich und seine Familie nicht ausgeschlossen, zu erdulden. Die Missregierung wurde gestürzt, aber das Schicksal von Anhalt ward nicht in Bernburg entschieden. Als der Landtag aufgelöst war, kehrte Zeising in die Schule zurück und lehnte ein Wiederwahl für das folgende Jahr ab. Dem einfachen Schulmanne konnte die Feindseligkeit besser beikommen, und Leute, die ihren Mantel nach dem Winde drehten, wussten ihm, dessen gerader, offener Charakter solches Treiben in tiefster Seele verachtete, durch ihre Intriguen seine Stellung gründlich zu verleiden. Eine auffallende, ungerechte Zurücksetzung machte ihm im Jahre 1852 das weitere Verbleiben am Gymnasium unmöglich. Da man nichts mehr als seine Entfernung wünschte, so erleichterte man ihm den Abgang und setzte ihm eine mässige Pension aus. Dieses Unglück war sein Glück; er lebte von jetzt an ganz der Wissenschaft und Kunst; der kleinlichen Sorgen los, fand er die Zeit, die Sammlung und Ruhe, um Grösseres zu schaffen und die Pläne, die er schon lange mit sich herumgetragen hatte, zur Ausführung zu bringen.

Zunächst siedelte Zeising nach Leipzig über, trat in den lebhaftesten Verkehr mit Män-nern der Kunst und Wissenschaft und, Anregung gebend wie Anregung empfangend, fand er die Zeit, dem lange gehegten Gedanken Gestalt zu geben und in der schon berührten “Neuen Lehre der Proportionen” seine epochemachende Idee zu veröffentlichen. Sofort begannen die vielfältigsten und detailliertesten Messungen an Menschen, Pflanzen, Kunstwerken, welche er während seines ganzen Lebens fortsetzte, und welche ihm immer neue Gesichtspunkte für die Ausdehnung seiner Theorie eröffneten. Diese Arbeit gab auch den Anlass zur Aufnahme in unsere Akademie. – Der Wunsch, in der Glyptothek an plastischen Werken der antiken Kunst Messungen zu machen und den Alpen nahe zu sein, die er schon öfters in den Herbstferien besucht hatte, sowie die Absicht, einen längeren Aufenthalt in Italien zu nehmen, führte ihn im Jahre 1855 nach München, wo er sich nachher entschloss, seinen bleibenden Wohnsitz aufzuschlagen.

Rastloser Eifer und steter Schaffenstrieb machten Zeising zu einem sehr fruchtbaren Schriftsteller. Der neuen Lehre von den Proportionen folgten die Aestetischen Forschungen (1855), ein abgeschlossenes System der Aesthetik, die Broschüre “das Normalverhältnis der ehemischen und morphologischen Proportionen” (1856), die Abhandlungen: “die Verhältnisse der Menschengestalt und der Blatteinstellung in ihrer Gleichheit und Verschiedenheit” und “Zur Lehre vom menschlichen Gesichtswinkel” (in der Zeitschrift “Natur” 1855, 1856), “die Unter-schiede in den Proportionen der Racentypen” (in Vierodt’s Archiv für physiologische Heilkunde 1856), “die Proportionen von vier antiken Statuen” und “die Proportionen des Parthenon nach den Penrose’schen Messungen” (im Kunstblatt 1856, 1857), dann als Ergebnis sorgfältigster Messungen die grosse Abhandlung: “Ueber die Metamorphosen in den Verhältnissen der menschlichen Gestalt von der Geburt bis zur Vollendung des Längenwachstums” (in den Verhandlungen unserer Akademie Vol. XXVI, P. II. p,783) die Abhandlungen: “das Pentagramm”, “Aesthetische Studien im Gebiete der geometrischen Formen” und “die regulären Polyeder” (in der deutschen Vierteljahresschrift 1868, 1869), endlich die noch ungedruckten, vollständig fertigen Abhandlungen: “der goldene Schnitt in der Mathematik” und “der goldene Schnitt in Meisterwerken der Malerei”.

Noch in Bernburg als Gymnasiallehrer hatte Zeising die eingehendsten sprachwissen-schaftlichen Studien gemacht, um einen Gedanken über Unlaut zu verfolgen. Aber durch die Beschäftigung mit dem Sanskrit, der Keilschrift hatte er sich eine Augenkrankheit zugezogen, die ihn zwang, diese Studien zu unterbrechen. Nur kleinere Aufsätze, z.B. über kn, sind von diesen Arbeiten veröffentlicht worden. Zur Erholung wählte er sich das belletristische Gebiet, wo zunächst “Ludwig Tieck’s Heimgang” entstand. Künstlerischer Sinn und poetische Anlage, reiche Empfindungsgabe und vielseitiges Wissen gaben dem Forscher und Denker Gelegenheit, seine philosophischen Ideen in das gefällige Gewand der Dichtung zu kleiden und einem grösseren Publikum zugänglich zu machen. Ich führe von diesen Werken hier nur an: “die Reise nach dem Lorbeerkranze” (1861), “Hausse und Baisse” (1864), “Joppe und Crinoline” (1865), “Kunst und Gunst” (1865). Ein weiterer Roman, der bereits entworfen war, sollte die Lösung der deutschen Frage behandeln: das Jahr 1866 kam mit der Lösung zuvor und gern liess Zeising den Entwurf im Pulte liegen. Von dramatischen Dichtungen sei nur die Tragödie: “Eudocia” und das Schauspiel: “die Landhofmeisterin” erwähnt.

Langjährige philosophische Studien führten zur Ausarbeitung eines Systems der Metaphysik, von dem später der wesentliche Theil in dem schon angerührten Werke: “Religion und Wissenschaft” veröffentlicht wurde. Kleinere Abhandlungen erschienen in der Zeitschrift für Philosophie, im Morgenblatt, in den Kritischen Monatsheften, wie: “die menschliche Gestalt in ihrem Zusammenhange mit der menschlichen Bestimmung”, “die Grundformen des Denkens in ihrem Verhältnis zu den Grundformen des Seins”, “Ueber die Zweckmässigkeit in der Natur”, “Kraft und Stoff – Geist und Materie”, “Ueber den Begriff des Seins”, “Ueber den Gottesbegriff”.

Die ästhetischen und literarhistorischen Studien machten Zeising zu einem fleissigen Mitarbeiter verschiedener Zeitschriften und Zeitungen, wie der Blätter für literarische Unter-haltung, der Augsburger Allg. Zeitung, der Europa, des Kunstblattes, der Bayr., der Preussischen Zeitung, für welche er zahlreiche Kritiken, Kunstberichte, literarhistorische Aufsätze lieferte. Seine Gewandtheit im Uebersetzen bekundete er in der Uebertragung Xenophontischer Schriften.

Einige Unterbrechung erlitt seine wissenschaftliche und schriftstellerische Thätigkeit nur immer durch Bergtouren bei seinem Landaufenthalte im oberbayrischen Gebirge und Tirol, wohin ihn alljährlich seine ausserordentliche Freude an der Natur und die begeisterte Liebe zu der grossartigen Alpenwelt führte und wo ihm die schneebedeckten Gipfel traute Bekannte waren. So lebte er fort, gesund und frisch an Geist und Körper, bis er im Jahre 1873 von einem inneren qualvollen Leiden befallen wurde, welches seinen kräftigen Körper bei der liebevollsten und aufopfernsten Pflege der zärtlichsten Gattin nur allmälig aufzureiben vermochte. Seinem edlen Sinn, seiner hohe, herrlichen Begeisterung für alles Gute und Schöne, seinem reichen, selbstlosen Charakter bewahren zahlreiche Freunde die liebevollste Erinnerung und gedenken seines geistreichen, anregenden, oft mit Humor und Laune gewürzten Unterhaltung, seines biederen, offenen Wesens. Zeising hat gearbeitet, gekämpft und geduldet, aber auch das Leben in reinster, des Menschen würdigster Weise genossen.

 

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