Durch den am 27.April erfolgten Tod von Adolf Zeising hat unsere Akademie ein angesehenes Mitglied, die Wissenschaft einen ihrer Treuesten Jünger verloren. Zeisings Name verdankt seine allgemeine Bekanntschaft vorzugsweise der Entdeckung von dem Proportional-gesetz des goldenen Schnitts, welches in erster Linie für die Theorie des Schönen epochemachend wurde und der Aesthetik exacte Forschung zuführte, aber auch für die Physiologie, Botanik, Mathematik und andere Wissenschaften Bedeutung gewann. Seit dem Erscheinen der Neuen Lehre von den Proportionen (1854) hat sich auf den verschiedenen Gebieten des Wissens eine umfassende Literatur mit der Ausführung und Entwicklung der fruchtbaren Idee beschäftigt, und der Entdecker selbst, gehoben durch die immer klarer vor Augen tretende Geltung und Wichtigkeit der gefundenen Wahrheit, ist nicht müde geworden, seinen Gedanken nach allen Seiten zu verfolgen und zu bearbeiten. Auch diejenigen Künstler, welche sich zuerst ablehnend verhielten und meinten, dass das Gesetz dem freien Schaffen des Genius Fesseln anlegen wolle, mussten sich bald durch den Hinweis auf Meister Raphael und die grossen Baumeister des Altertums wie des Mittelalters eines Besseren belehren lassen und erkennen, dass nicht bloss das Kunsthandwerk, welches sich alsbald der Entdeckung freudig bemächtigte, sondern auch die Kunst von der Erkenntnis des Gesetzes lernen könne.
Adolf Zeising (oben links) aus: Ein Festabend der
Münchner Dichter, Originalzeichnung von Theodor Pixis
Wie dieses reiche und
fruchtbare Leben seine Ziele und Richtungen erhalten hat, wollen wir hier nur
kurz anzudeuten suchen. Zeising war geboren zu Ballenstedt am 24. Sept. 1810.
Sein Vater hatte als Violinvirtuose grosse Kunstreisen, selbst in fremde
Weltteile gemacht und sich zuletzt als Kammermusikus in Ballenstedt
niedergelassen. Die Quartette im Hause des Vaters erweckten in dem Knaben den
feinen musikalischen Sinn und die besondere Vorliebe für Quartettmusik. Schon
in seinem 7. Jahre verlor er seinen Vater. Seine Mutter siedelte nach Bernburg
über und brachte den Knaben in das dortige Gymnasium. Nur für kurze Zeit wurde
er den Gymnasialstudien entzogen und in eine Apotheke in die Lehre gegeben;
bald durfte er seiner Neigung entsprechend in das Gymnasium zurückkehren. Der
Treffliche Mathematiklehrer des Gymnasiums regte in dem Schüler das lebhafte
Interesse für Mathematik an, welches für seine späteren Studien so bedeutungsvoll
werden sollte. In Secunda lenkte er die Aufmerksamkeit des liebenswürdigen
Herzogs Alexis Friedrich Christian mit einem Gedicht über den Ballenstedter
Schlossgarten auf sich und ward durch ein grosses Amtsschreiben überrascht,
welches ihm den Dank des Herzogs ausdrückte und ein Stipendium für die
Vollendung seiner Studien aussetzte. Ostern 1831 ging er vom Gymnasium ab.
Obwohl er sich die grösste Anerkennung seiner Lehrer und den ersten Preis
erworben hatte, drückte sich sein Zeugnis doch etwas flau und zurückhaltend
aus. Da der Jüngling deshalb mit Rücksicht auf das herzogliche Stipendium dem
Direktor seine Bedenken äusserte, tröstete ihn dieser und verriet ihm, dass das
Zeugnis, welches der Herzog erhalten, ganz anders laute, und dass man ihm die wahren
Noten deshalb nicht in die Hand gegeben habe, um ihm nicht hochmütig zu machen.
Das erste Semester brachte er in Berlin zu, wo er die Vorlesungen von Böckh,
Bachmann u.a. besuchte; dann ging er nach Halle und hörte Philosophie bei
Rosenkrantz, Philologie bei Bernhardy und Ritschl. Damals verfasste er ausser
Xenien das Gedicht: An die Wolken, welches ihn bereits öffentlich bekannt
machte. Zuletzt kehrte er nach Berlin zurück und schrieb dort Briefe eines
angehenden Philosophen. Grosse Freude machte ihm damals der Verkehr mit
Chamisso. Im Jahre 1833 ging er von der Universität ab und bereitete sich für
das Examen zum Lehramt vor. Als er dasselbe bestanden, gab er eine Zeit lang
unentgeltlich Unterricht am Gymnasium in Bernburg. Privatunterricht musste
nebenbei die nöthigen Existenzmittel verschaffen. Ja, er sah sich gezwungen,
eine Stelle an einer höheren Töchterschule anzunehmen, bis man erkannte, dass
man eine solche Kraft besser verwenden könne. Bis dahin hatten Intriguen eines
einflussreichen Verwandten seine Anstellung am Gymna-sium hintertrieben. Im
Jahre 1840 promovierte er: die Knappheit der Verhältnisse hinderte ihn, sich an
einer Hochschule zu habilitieren und dort einen entsprechenden Beruf zu finden.
Im Jahre 1841 zum provisorischen Subconrector ernannt, erhielt er 1848 den
Titel Professor. Neben der Thätigkeit für die Schule ging eine angestrengte
wissenschaftliche und poetische Thätigkeit einher. Unter dem Namen Richard
Morning lieferte er reiche Beiträge für die Jahreszeiten von Marbach, unter Anderem
eine Paralelle zwischen Goethe und Tieck. Zu seiner grossen Ueber-raschung
wurde er, als er bald darauf Tieck in Dresden besuchte, von ihm als der
Verfasser jenes Aufsatzes freundlichst begrüsst. Im Jahre 1843 heiratete er die
Tochter des Geheimrats Petri, die er bereits an der Töchterschule kennen und
verehren gelernt hatte und die ihm die treueste Lebensgefährtin wurde. In den
Bewegungen des Jahres 1848 begründete und redigierte er das Oppositionsblatt Sprechsaal
in welchem die Missbräuche der Verwaltung aufgedeckt wurden und die damalige
Regierung von drei Conferenzräthen einer unnachsichtigen, aber gerechten Kritik
unterlag. Bald wurde er in Bernburg zum Volksvertreter ernannt und hatte als Führer
der liberalen Partei und als unantastbarer, entschiedener Charakter die
heftigsten Anfeindungen und aufregendsten Szenen, Lebensgefahr für sich und
seine Familie nicht ausgeschlossen, zu erdulden. Die Missregierung wurde
gestürzt, aber das Schicksal von Anhalt ward nicht in Bernburg entschieden. Als
der Landtag aufgelöst war, kehrte Zeising in die Schule zurück und lehnte ein
Wiederwahl für das folgende Jahr ab. Dem einfachen Schulmanne konnte die
Feindseligkeit besser beikommen, und Leute, die ihren Mantel nach dem Winde
drehten, wussten ihm, dessen gerader, offener Charakter solches Treiben in tiefster
Seele verachtete, durch ihre Intriguen seine Stellung gründlich zu verleiden.
Eine auffallende, ungerechte Zurücksetzung machte ihm im Jahre 1852 das weitere
Verbleiben am Gymnasium unmöglich. Da man nichts mehr als seine Entfernung
wünschte, so erleichterte man ihm den Abgang und setzte ihm eine mässige
Pension aus. Dieses Unglück war sein Glück; er lebte von jetzt an ganz der
Wissenschaft und Kunst; der kleinlichen Sorgen los, fand er die Zeit, die
Sammlung und Ruhe, um Grösseres zu schaffen und die Pläne, die er schon lange
mit sich herumgetragen hatte, zur Ausführung zu bringen.
Zunächst siedelte Zeising
nach Leipzig über, trat in den lebhaftesten Verkehr mit Män-nern der Kunst und Wissenschaft
und, Anregung gebend wie Anregung empfangend, fand er die Zeit, dem lange
gehegten Gedanken Gestalt zu geben und in der schon berührten Neuen Lehre der
Proportionen seine epochemachende Idee zu veröffentlichen. Sofort begannen die
vielfältigsten und detailliertesten Messungen an Menschen, Pflanzen, Kunstwerken,
welche er während seines ganzen Lebens fortsetzte, und welche ihm immer neue
Gesichtspunkte für die Ausdehnung seiner Theorie eröffneten. Diese Arbeit gab
auch den Anlass zur Aufnahme in unsere Akademie. Der Wunsch, in der
Glyptothek an plastischen Werken der antiken Kunst Messungen zu machen und den
Alpen nahe zu sein, die er schon öfters in den Herbstferien besucht hatte,
sowie die Absicht, einen längeren Aufenthalt in Italien zu nehmen, führte ihn
im Jahre 1855 nach München, wo er sich nachher entschloss, seinen bleibenden
Wohnsitz aufzuschlagen.
Rastloser Eifer und steter
Schaffenstrieb machten Zeising zu einem sehr fruchtbaren Schriftsteller. Der
neuen Lehre von den Proportionen folgten die Aestetischen Forschungen (1855),
ein abgeschlossenes System der Aesthetik, die Broschüre das Normalverhältnis
der ehemischen und morphologischen Proportionen (1856), die Abhandlungen: die
Verhältnisse der Menschengestalt und der Blatteinstellung in ihrer Gleichheit
und Verschiedenheit und Zur Lehre vom menschlichen Gesichtswinkel (in der
Zeitschrift Natur 1855, 1856), die Unter-schiede in den Proportionen der
Racentypen (in Vierodts Archiv für physiologische Heilkunde 1856), die
Proportionen von vier antiken Statuen und die Proportionen des Parthenon nach
den Penroseschen Messungen (im Kunstblatt 1856, 1857), dann als Ergebnis
sorgfältigster Messungen die grosse Abhandlung: Ueber die Metamorphosen in den
Verhältnissen der menschlichen Gestalt von der Geburt bis zur Vollendung des
Längenwachstums (in den Verhandlungen unserer Akademie Vol. XXVI, P. II. p,783)
die Abhandlungen: das Pentagramm, Aesthetische Studien im Gebiete der
geometrischen Formen und die regulären Polyeder (in der deutschen
Vierteljahresschrift 1868, 1869), endlich die noch ungedruckten, vollständig
fertigen Abhandlungen: der goldene Schnitt in der Mathematik und der goldene
Schnitt in Meisterwerken der Malerei.
Noch in Bernburg als
Gymnasiallehrer hatte Zeising die eingehendsten sprachwissen-schaftlichen Studien
gemacht, um einen Gedanken über Unlaut zu verfolgen. Aber durch die
Beschäftigung mit dem Sanskrit, der Keilschrift hatte er sich eine
Augenkrankheit zugezogen, die ihn zwang, diese Studien zu unterbrechen. Nur
kleinere Aufsätze, z.B. über kn, sind von diesen Arbeiten veröffentlicht
worden. Zur Erholung wählte er sich das belletristische Gebiet, wo zunächst Ludwig
Tiecks Heimgang entstand. Künstlerischer Sinn und poetische Anlage, reiche
Empfindungsgabe und vielseitiges Wissen gaben dem Forscher und Denker
Gelegenheit, seine philosophischen Ideen in das gefällige Gewand der Dichtung
zu kleiden und einem grösseren Publikum zugänglich zu machen. Ich führe von
diesen Werken hier nur an: die Reise nach dem Lorbeerkranze (1861), Hausse
und Baisse (1864), Joppe und Crinoline (1865), Kunst und Gunst (1865). Ein
weiterer Roman, der bereits entworfen war, sollte die Lösung der deutschen
Frage behandeln: das Jahr 1866 kam mit der Lösung zuvor und gern liess Zeising
den Entwurf im Pulte liegen. Von dramatischen Dichtungen sei nur die Tragödie: Eudocia
und das Schauspiel: die Landhofmeisterin erwähnt.
Langjährige philosophische
Studien führten zur Ausarbeitung eines Systems der Metaphysik, von dem später
der wesentliche Theil in dem schon angerührten Werke: Religion und
Wissenschaft veröffentlicht wurde. Kleinere Abhandlungen erschienen in der
Zeitschrift für Philosophie, im Morgenblatt, in den Kritischen Monatsheften,
wie: die menschliche Gestalt in ihrem Zusammenhange mit der menschlichen
Bestimmung, die Grundformen des Denkens in ihrem Verhältnis zu den
Grundformen des Seins, Ueber die Zweckmässigkeit in der Natur, Kraft und
Stoff Geist und Materie, Ueber den Begriff des Seins, Ueber den
Gottesbegriff.
Die ästhetischen und
literarhistorischen Studien machten Zeising zu einem fleissigen Mitarbeiter
verschiedener Zeitschriften und Zeitungen, wie der Blätter für literarische
Unter-haltung, der Augsburger Allg. Zeitung, der Europa, des Kunstblattes, der
Bayr., der Preussischen Zeitung, für welche er zahlreiche Kritiken,
Kunstberichte, literarhistorische Aufsätze lieferte. Seine Gewandtheit im
Uebersetzen bekundete er in der Uebertragung Xenophontischer Schriften.
Einige Unterbrechung erlitt
seine wissenschaftliche und schriftstellerische Thätigkeit nur immer durch
Bergtouren bei seinem Landaufenthalte im oberbayrischen Gebirge und Tirol,
wohin ihn alljährlich seine ausserordentliche Freude an der Natur und die
begeisterte Liebe zu der grossartigen Alpenwelt führte und wo ihm die
schneebedeckten Gipfel traute Bekannte waren. So lebte er fort, gesund und
frisch an Geist und Körper, bis er im Jahre 1873 von einem inneren qualvollen
Leiden befallen wurde, welches seinen kräftigen Körper bei der liebevollsten
und aufopfernsten Pflege der zärtlichsten Gattin nur allmälig aufzureiben
vermochte. Seinem edlen Sinn, seiner hohe, herrlichen Begeisterung für alles
Gute und Schöne, seinem reichen, selbstlosen Charakter bewahren zahlreiche
Freunde die liebevollste Erinnerung und gedenken seines geistreichen,
anregenden, oft mit Humor und Laune gewürzten Unterhaltung, seines biederen,
offenen Wesens. Zeising hat gearbeitet, gekämpft und geduldet, aber auch das Leben
in reinster, des Menschen würdigster Weise genossen.
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