Liebe Eltern! Kopenhagen, 27.3.24
Eigentlich verlohnt es sich schon gar nicht mehr, einen Brief zu schreiben, weil ich ja doch in wenigen Tagen in Mü. sein werde. Aber ich wills doch versuchen; die Besprechungen mit Bohr gehen wunderschön weiter und wir sind uns schon wirklich fast in allen Punkten einig. Ich hab mich auch so halb schon mit allen übrigen Leuten hier angefreundet und vertrag mich mit ihnen sehr gut. Übermorgen früh will ich mit Bohr nun definitiv aufs Land gehen für drei Tage. Da kommen wir Montag abend oder Dienstag früh zurück u. am Dienstag früh 10.15 fahr ich von hier nach Hamburg zurück. Auf diese Weise bin ich, wenn man Zugverspätungen nicht in Rechnung setzt, am Mittwoch morgen in Gött.
[Da muss ich leider Station machen. Aber vielleicht geht auch mittags ein Schnellzug nach Würzburg (früher ging einer um 12.21 von Gö.) dann wäre ich 5 Uhr in Wü. Und am 3. früh in München. In Wü. möchte ich wenigstens ein paar Stunden bleiben. Wenn ich etwas verkatert ankommen sollte, braucht Ihr Euch natürlich nicht zu wundern, denn die Reise ist ziemlich lang]. Sonst ist wenig neues zu erzählen. Die Besprechungen mit Bohr nehmen natürlich im Tag immer nur ein paar Stunden ein, dabei wird gewöhnlich spazieren gegangen zum Freihafen oder in den Anlagen. Sehr oft sitz ich auch abends bei Bohr und die Physik wird bei einem (oder mehreren) Glas Portwein um neue Entdeckungen bereichert. Manchmal ist das besprochene sogar am nächsten Morgen noch richtig.-Übrigens kommt Bohr durch eine solche Schilderung in ein falsches Licht, seine Art, Physik zu treiben, ist in Wirklichkeit sehr ‘handwerksmässig’, er sucht zunächst immer nur den Fortschritt in Einzelheiten.
In den Freizeiten sitz ich im Institut und studiere alle möglichen Bücher, um receptiv meine physikalische Allgemeinbildung zu ‘heben’. Zum eigenen Nachdenken bin ich leider z.Z. völlig unfähig, am Semesterschluss bin ich natürlicherweise ganz ausgequetscht und auch nach den Besprechungen mit Bohr bin ich oft ziemlich geliefert. Aufs Land zu gehen ist drum eine glänzende Idee.-Heut abend will ich mit einem jungen Physiker Cello u. Klavier Beethoven-Sonaten spielen. Das wird sicher fein. Ohne Musik kann man wirklich nicht leben. Aber wenn man Musik hört, kommt man manchmal auf die absurde Idee, dass das Leben einen Sinn hätte. Alles in allem geht es mir hier also glänzend, und ich freu mich sehr auf München (am 4.1. früh). Euer Werner
Wie gewöhnlich, so ums Wochenende herum will ich auch heut ein bissl ausführlicher erzählen. Die letzte Woche hab ich nichts mehr von Euch gehört (letzte Nachricht vom 11.), die Post geht halt langsam. Aber Ihr werdet ja mein Ankunftstelegramm jedenfalls bekommen haben; ich werde auch in Zukunft jede Woche einmal schreiben, wenns irgend geht. Die Zeit hier vergeht schnell, Vorträge, Autofahrten, Dinners u.s.w. Eigentlich wollte ich am Ostern Otto besuchen, da ich aber gestern abend noch eingeladen war, schien mirs zwecklos. (12 Stunden Reise für 12 St.Besuch!). So hatte ich halb die Hoffnung aufgegeben, Ostern überhaupt ein bissl zu feiern, es wurde aber durch glückliche Zufälle doch mehr draus, als ich dachte.
Zunächst stellte sich heraus, dass der Professor, bei dem ich gestern eingeladen (war), uns mit in ein Konzert nahm, das aus Beethoven 1. Symph. und Beethoven 9. Symph. bestand. Ihr könnt Euch denken, wie ich das genossen hab, nachdem ich wochenlang nicht mal selber hab spielen können. Mir gingen heut den ganzen Tag noch die Melodien daraus im Kopf durcheinander. Heut früh war strahlendes Wetter, die Luft warm und der Himmel wolkenlos. Ich sagte also meinem Impresario, dass ich heute in einem Wald zu Fuss gehen wollte, in den kein Bezingeruch und keine Autohupe dringt. So eine Forderung gilt hier als ziemlich verrückt, aber einem Deutschen wird sie nicht übelgenommen. Da die Bahnverbindungen schlecht waren, nahm mich dieser Impres., Prof. Vallerte, mit seinem Auto mit, er besuchte Freunde in einer kleinen Villenstadt der Umgebung. Mitten in einem grösseren Wald erklärte ich also, aussteigen zu wollen, was er mir verständnislos erlaubte, heimfinden würde ich allein. Schon 50 m von der Strasse weg bildet dieser Wald aus Fichten, Birken, Föhren u.ähnl. eine ziemlich undurchdringliche Wildnis. Von Forstwirtschaft war hier nie die Rede. Die alten Stämme werden morsch, brechen ab und liegen kreuz und quer zwischen den jungen Bäumen; wer Holz braucht, mags abschneiden, aber es macht sich niemand die Arbeit. Das Gelände selbst ist hügelig, manchmal stehen sogar richtige Felsen recht verführerisch zum Heraufklettern da. In diesem Dickicht arbeitete ich mich also allmählich weiter, folgte dann einer ausgetretenen Spur, musste wieder umkehren, da der Wald sich in ein Moor verwandelte, kam aber im grossen und ganzen doch in der einmal gefühlsmässig gewählten Richtung gut vorwärts. (..) Einmal sah ich auch einen Bauernhof auf einer Waldblösse, ärgerte mich etwas mit zwei grossen Hunden herum, ging aber doch unbeirrt, ohne recht zu wissen warum, einer bestimmten Richtung nach. Menschen waren im Wald nicht zu sehen. Auf einmal kam ich mitten im Wald an einen herrlichen blauen See, in dem sich Fichten und grosse, cypressenartige Bäume spiegelten. Man hörte keinen Laut mehr, als den Wind und übermütige Vögelchen, und die Luft war voll Tannengeruch; dort blieb ich eine Zeit, dann entdeckte ich etwas oberhalb, im Gestrüpp versteckt, ein Blockhaus aus dicken Stämmen, wie bei uns die Heuhütten im Gebirge; da aus dem Schornstein kein Rauch aufstieg, war wohl niemand zu Haus und ich beschloss eingehendere Untersuchung: An der festverschlossenen Tür standen Pfadfinderzeichen und "Totems", es war sofort zu sehen, dass hier noch kurz vorher ein Trupp amerikanischer Pfadfinder gehaust hatte; einer muss sogar, den Spuren nach zu schliessen, ein Reitpferd mitgehabt haben. Den Rest des Nachmittags beschäftigte ich mich dann mit meinen unsichtbaren amerikanischen Freunden, strolchte im Wald herum und freute mich, wenn ich irgendwelche anderen Zeichen von ihnen entdeckte und fühlte mich dabei halb zu Hause; im ganzen fand ich vier Hütten, die diesem Trupp gehörten, etwa auf einem Quadratkilometer verstreut. Auf einer Anhöhe, zwischen den Felsen, etwa einen Kilometer vom Lager, fand ich sogar unter einem Stein einen Zettel, der von einem Führer des Trupps unterzeichnet war u. offenbar bei einem Kriegsspiel eine Rolle gespielt hat; er stammte vom 17.3.28 und war offenbar vergessen worden;- vielleicht hat der betreff. Pfadfinder auch 28 und 29 verwechselt.
Über alledem ging aber allmählich die Sonne unter, und ich musste mich schicken, noch vor Einbruch der Dunkelheit aus dem Dickicht zu kommen. Ich fand auch ein paar ausgetretene Steige in der gewünschten Richtung und erreichte mit den ersten Sternen den Waldrand. An der Autostrasse liess ich mich, wie hier so üblich, von einem der ersten besten Wagen mitnehmen und erreichte auf einigen Umwegen gegen 1/2 9 h die Wohnung. So hab ich also diesmal Ostersonntag gefeiert.
Mittwoch abend reise ich von hier ab, Donnerstag schau ich mir die Niagarafälle an, Freitag komm ich nach Chicago und halte dort meine erste Vorlesung.
Viele herzlich Grüsse, auch an Tante Muckl Euer Werner
Liebe Mama! Leipzig, 15.12.1930
Leider ist doch wieder so spät geworden, dass Dich der Brief erst übermorgen erreichen kann. Aber auch, wenn Du nicht jeden Tag einen Brief von mir bekommst, so weisst Du doch, dass ich wohl jede Stunde an Dich und den guten Papa und die Stelle in den Tannen am Waldfriedhof denke. Ich male mir auch manchmal die längstvergangenen Tage vor dem Krieg aus, wo wir durch den Forstenrieder Park nach Starnberg zogen, über Zäune klettern mussten und vor den Wildschweinen flohen; oder die Radausflüge nach Dachau.- Eigentlich hat Papa doch ein wunderschönes Leben gehabt; ich erinnere mich, dass ich ihm das in Fieberbrunn einmal erzählte; da meinte er:"Ach ja, Werner, das ist ja schon wahr - besonders wenn ich so an andere denke - aber es könnte doch dies oder jenes noch besser sein." Da hab ich ihn ausgelacht und er wars ganz zufrieden. Auch hat mir Papa einmal wörtlich gesagt: "Weisst Du, Werner, alt werden, das ist doch das allerschrecklichste." Oder ein anderes Mal sagte er im Spass:"Wenn ich mal merke, dass es soweit ist, dass Du mich im Schach gewinnen lässt, dann macht mirs Leben keinen Spass mehr." Drum ist sein Leben vielleicht im Ganzen doch so am schönsten gewesen.- Ob es ein Leben nach dem Todes gibt? Ich glaube eigentlich, dass die menschliche Sprache und unsere Gedanken nicht geeignet sind, solch eine Frage zu stellen oder zu beantworten; was jenseits der Welt ist, das ist auch jenseits unseres Denkvermögens; das zu erkennen, sind wir nicht erschaffen. Wir verstehen doch auch nicht, woher die Welt kommt und wohin sie geht; wieso sollten wir verstehen, woher die Menschen kommen und wohin sie gehn. Aber wir spüren Papas Liebe noch in alledem, was er uns hinterlassen hat, den Worten, die er zu uns gesagt hat, das alles ist doch auch noch lebendig und wirkt weiter; mir fällt ein Spruch ein, der so aufhört-"aber ging es leuchtend nieder, leuchtets’ lange noch zurück." Ich meine eben, solange wir selbst auf dieser Welt sind, muss es uns genügen, dieses Zurück-leuchten noch zu spüren. Was dann später ist - nun, das wissen wir eben nicht.- Aber der liebe Gott hat die Menschen nicht nur erschaffen, um sie sterben zu lassen, sondern damit sie auf Erden glücklich sind und dieses Glück von sich noch ausstrahlen auf andere - dies hat sich so auch an Papa besonders schön erfüllt.- Ich erinnere mich an die Zeit, wo ich selber so am lebendigsten war, weisst Du, so vor zehn Jahren; da war das schönste an meinem Leben auch, dass sich mein Glück auf andere übertragen hat; das hab ich so gespürt, dass es so war und Du erinnerst Dich noch, wie ich in München empfangen wurde. Aus Deinen vielen Briefen weisst Du nun auch, wieviel mehr dies noch bei Papa so war und darum muss das für Papa auch sehr schön gewesen sein.--
[Aber ich will noch über einige praktische Fragen schreiben. Das Geld an Tante Muckl will ich von 1.1.31 ab überweisen lassen.] An Weihnachten kommst Du also wohl am 23. hierher. Da möcht ich Dich auch gern noch fragen: Was darf ich Dir zu Weihnachten schenken? Papa hat mir einmal heimlich gesagt, wir sollten uns zusammen tun und Dir einen grossen Teppich fürs gute Zimmere schenken. Aber ich hab das Gefühl, das würd Dich jetzt nimmer freuen; oder vielleicht doch, wenn du weisst, dass Papa Dir’s zugedacht hat? Ich wollt Dich nur erst fragen. Vielleicht weisst Du etwas besseres, was Du jetzt besser brauchen kannst. Nun freu ich mich drauf, dass Du am 23. hierherkommst. Viele herzliche Grüsse von Deinem Werner
Liebe Mama! Leipzig, 6.2.1937
Leider komme ich wenig zum Schreiben, auch den Geburtstag von Tante Nelly hab ich doch noch vergessen. Ich stecke in vielen Dingen, die mich sehr beschäftigen, teils Arbeit, teils Politik und manches andere, so wollen sich die Gedanken nicht recht zu einem Brief sammeln. Auch streikt in der letzten Zeit wieder mein Körper manchmal, ich bin oft nachmittags so müd, dass ich Mühe hab, am Schreibtisch nicht einzuschlafen. Dabei bleibe ich abends nicht lange auf.- An erfreulichen Dingen ist zu melden, dass ich am Donnerstag mit Edwin Fischer zusammen zu Mittag gegessen habe. Es ist immer etwas besonderes, Menschen zu begegnen, die eine Sache wirklich als Meister beherrschen. Seine Art, über Musik oder über Menschen zu sprechen, ist nicht nur impulsiv, sondern manchmal fast so sorgfältig und bescheiden wie bei Bohr. Er weiss genau, wie wahnsinnig schwer alle wirkliche Leistung ist und spricht deshalb auch von denen, die nur halb so viel können wie er, nur mit dem grössten Respekt. Abends hörte ich dann im Gewandhaus, wie er das C-moll-Konzert von Beethoven spielte; das kannte ich gut, weil ich es früher einmal geübt und auswendig gelernt hatte. Jede Note war ausgearbeitet und auch das Ganze mit der grössten Achtung vor Beethoven gespielt, es war ein grosser Genuss.
Am Montag abend haben wir übrigens hier im Haus Kammermusik gemacht, auch Erwin war als Zuhörer dabei.-
Meine Ferienpläne sind die folgenden: Ich möchte etwa am 24.2. nach München kommen und dann für eine Woche auf die Hütte. Bisher scheint nur Euler mitzugehen. Danach will ich nach einigen Tagen in München wieder hierher zurückkehren [Deine Fragen über die neue Wohnung, das Radio etc. Können wir dann wohl auch am besten besprechen]. Nun viele Grüße Dein Werner
Liebe Mama! Berlin, 23.1.1944
Hab vielen Dank für Deinen Brief. Ich hoffe sehr, dass der Besuch in München das Einerlei der Tage für Dich in erfreulicher Weise unterbrechen wird. Elisabeth erzählte mir, Du wollest jetzt bald einmal fahren, und Du schriebst es wohl auch selber. Allmählich werden ja auch die Tage länger, und der Frühlung in den Bergen ist meist früher als draussen in der Ebene, wenigstens hab ich grade im Februar und März oft wunderbare Sonnentage auf der Skihütte erlebt. Ich selbst hoffe, etwa am 16. Februar nach Urfeld zu kommen u. dort einige Tage zu bleiben. Vielleicht kannst du dann auch übers Wochenende mal kommen. Elisabeth hat ja leider wieder einige sehr schwierige Wochen vor sich: Unsere Russin ist krank u. die Waltraut geht auf Urlaub, da ihr Bruder von der Front Urlaub hat. Zum Glück kommt Frau Linder zu Hilfe, aber die ist halt auch ein schwieriger Mensch. Aber irgendwie muss es halt gehen.
Morgen früh muss ich auf ein paar Tage nach Kopenhagen reisen. Ich reise garnicht gerne, denn Bohr ist ja nach Schweden geflohen u. das Institut ist von uns militärisch besetzt worden. Aber eben aus dem letzteren Grund ist es wohl nötig, dass ich dort nach dem Rechten sehe und, wenn möglich, ausgleiche. Ich bin dem Bohr diesen Freundschaftsdienst wohl schuldig; hoffen wir, dass mein Besuch nicht umsonst ist.
- [Vor einigen Tagen hatten wir hier wieder Luftangriff. In Dahlem sind nur wenige Schäden angerichtet worden. Wenn Du übrigens nach solchen Zeitungsnachrichten in Sorge bist, so rufe doch einfach (etwa von der Post aus, wenn es zu Hause schwer geht) Elisabeth an. In vielen Fällen kann ich ihr doch Nachricht zukommen lassen.]
Also, liebe Mama, lass Dir die Einsamkeit nicht zu schwer ankommen. Vielleicht rückt sie Dir das vorübergehende Unglück des Tages ferner u. das Bleibende aus Vergangenheit u. Gegenwart näher. Und hoffentlich auf baldiges Wiedersehn in Urfeld! Dein Werner
Meine liebe Mama! Hechingen, 2.12.1944
Heut hab ich schon einen Brief von Dir bekommen, der sich so halb auf den 5. Dezember bezieht, und damit Du möglichst auch zum 5. einen Gruss von mir hast, will ich Dir gleich schreiben. Du hast Recht damit, dass das damals ein glücklicher Tag war, für Dich und für mich; denn auch wenn ich all das Unglück einrechne, das uns heute umgibt und das es auch sonst in meinem Leben wie in jedem Leben gegeben hat, so bin ich im Ganzen doch unglaublich glücklich gewesen und bin dankbar dafür, dass ich so lange auf dieser merkwürdigen und oft so wunderschönen Erde hab sein dürfen. Ich wäre froh, wenn ich meine Kinder noch aufwachsen sehen dürfte, wenn ich nochmal eine harmonische Zeit erleben und in ihr arbeiten kann; aber selbst, wenn das nicht bestimmt sein sollte, will ich für das dankbar sein, was mir das Schicksal gewährt hat. Die heutige Zeit lehrt uns ja, auf das Unwesentliche zu verzichten. Aber was uns über Jahrzehnte aus der Vergangenheit leuchtend im Gedächtnis geblieben ist, das ist nicht unwesentlich.
Ich denke oft an meine schöne Kindheit in Würzburg, wie ich mit Dir zusammen einkaufen durfte, bei Seisser oder bei Severin oder wie die Läden sonst hiessen, und wie ich ganz nach oben schaun musste, um Dein Gesicht zu sehen. An die Ausflüge in den Gutenberger Wald; zuerst die Fahrt mit der Trambahn, die bei gutem Wetter ein rotes Fähnchen hatte, dann der Weg unter den hohen Buchen und schliesslich das Wirtshaus in Reichenberg (ich weiss nicht, ob der Name noch stimmt), in dem es Limonade und gelegentlich Streusselkuchen gab. Wenn wir an anderen Sonntagen auf der Frankenwarte waren, nahm uns der Papa beim Abstieg gelegentlich bei der hand und lief mit uns so schenll, dass uns Hören und Sehen verging, und das war besonders schön. Dann gab es auch ein Wirtshaus am Steinberg, so hiess es wohl, wo man durch rote und blaue und gelbe Scheiben gucken konnte, und wo die Welt dann immer ganz anders aussah.
Dann die doppelten Weihnachtsfeste, in Würzburg und in München, mit der Eisenbahn und der grossen Landschaft und mit so viel Plätzchen und Kuchen, wie nur das Herz begehren konnte. Schliesslich, besonders wie wir etwas grösser wurden, die langen Sommerferien in Osnabrück, die eigentlich ein ununterbrochenes Fest waren. Ihr habt unsere Kindheit wirklich so schön gemacht, wie sie wohl kaum andere Menschen haben können, und selbst aus der Zeit des ersten Weltkriegs überwiegen die guten Erinnerungen bei weitem die schlimmen. Ich kann mir nur wünschen, dass ich für meine eigenen Kinder nur einigermassen so sorgen kann, wie Ihr für uns gesorgt habt.
In der Zeit nach dem ersten Krieg ist ja dann der Inhalt des Lebens weitgehend durch den Eintritt in den Kreis anderer Menschen bestimmt gewesen, wie das sich so gehört, wenn man erwachsen wird, und auch diese Jahre waren sehr schön, und dann hab ich wohl allen Grund, dankbar zu sein für die Aufgabe, die mir das Schicksal als Erwachsenen gestellt hat. Ich hab das Gefühl, hier noch manche Aufgabe zu haben, aber niemand von uns weiss, wie er durch das letzte und stärkste Toben des Orkans, das uns noch bevorsteht, hindurchkommen wird. Jedenfalls geb ich auch hier mein Leben gern vertrauensvoll in die Hände der höheren Macht, die es bisher geleitet hat.
Man muss jetzt das nächstliegende tun und sehen, um nicht vom Grauen gepackt zu werden. So sollen wir uns jetzt auf Weihnachten freuen; das wollen wir mit den Kindern feiern wie zu alter Zeit; ich finde es gut, dass Du mit uns sein wirst, und wenn Du unsere Kleinen siehst, wie sie mit der Eisenbahn spielen und sich am Christbaum freuen, da musst Du doch auch den Weg zurückfinden in die alte Zeit, die so viel stiller war als die heutige und die darum so viel vernehmlicher zum Herzen gesprochen hat. Also an Weihnachten wollen wir zusammen sein, es wird sich schon irgendwie einrichten lassen. Einstweilen aber hab den herzlichsten Dank für alles, und bleib gesund und gräme Dich nicht zu sehr über die Gegenwart. Dein Werner